Der Unfall im Gotthardbasistunnel und die Folgen für Sicherheitsaufsicht bei Bahnen
Blog gestützt auf einen Beitrag im AVV-Newsletter Oktober 2025 von www.bahnverstand.ch sowie einem Referat am 3. ECM-Fachkongress der VDV-Akademie vom 1. Oktober 2025 in Duisburg.
Die Güterwagenhalter in Deutschland (VPI), der Schweiz (VAP) und auf europäischer Ebene (UPI) zeigen sich schockiert: Die Verfügung des Bundesamtes für Verkehr (BAV) vom 11. September 2025 für Sicherheitsmassnahmen bei Güterwagen sei unverhältnismässig und führe zu nichts weniger als enormen wirtschaftlichen Schäden für den Schienengüterverkehr und gefährde die Verkehrswende und einen wirksamen Klimaschutz. Ein genauer Blick auf die Folgen des Unfalls im Gotthardbasistunnel 2023 lohnt sich, da er die Schwächen in der europäischen Sicherheitsaufsicht bei Bahnen offenlegt.
Unfall im Gotthardbasistunnel
Am 10. August 2023 entgleiste im Gotthardbasistunnel ein Güterzug. Der Tunnel war zwei Wochen gesperrt und für über ein Jahr nur einspurig befahrbar. Die Kosten waren mit 150 Mio. Franken enorm und müssen von SBB Cargo getragen werden, auch wenn der Unternehmung kein Verschulden zukommt. Grosses Glück war, dass nur der schöne Tunnel beschädigt wurde und das stabile Stahltor ein Entlaufen der Wagen auf die Gegenfahrbahn verhinderte. Hätte sich die Entgleisung in einem dichtbefahrenen Bahnhof ereignete, wären die Auswirkungen weitaus schwerwiegender gewesen.
Überholtes Eisenbahnhaftpflichtrecht führt zu unsolidarischem Verhalten
Das Unglück brachte einmal mehr die Frage der Haftung bei Eisenbahnunfällen auf die Tagesordnung. Die Politik war jedoch nicht Willens, das Eisenbahnhaftpflichtrecht den heutigen Verhältnissen anzupassen. Der Titel des Gesetzes sagt schon alles über die Aktualität der Regelungen: «Bundesgesetz über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschifffahrtsunternehmungen und der Schweizerischen Post vom 28. März 1905» (SR 221.112.742). Die Haftungsregeln tragen den heutigen Verhältnissen mit einer geteilten Verantwortung von Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), Infrastrukturbetreibern (ISB), Wagenhaltern und Unterhaltsbeauftragten (Entity in Charge of Maintenance, ECM) in keiner Weise Rechnung. Die Wagenhalter verweisen darauf, dass eine Anpassung auf europäischer Ebene umgesetzt werden sollte, was jedoch seit Jahren nicht gelingt und von den Wagenhaltern auch verhindert wird. Die einseitige Zuweisung des Haftungsrisikos an die Eisenbahnverkehrsunternehmen führt dazu, dass risikominierende Massnahmen durch Wagenhalter oder Unterhaltsbeauftragte (ECM) nicht konsequent ergriffen werden. Zudem ist das Verhalten zutiefst unsolidarisch, was dem gemeinsamen Bestreben nach einer hohen Sicherheit im Bahnverkehr zuwiderläuft.
Unfallursachen bekannt
Die Schweiz. Unfalluntersuchungsstelle (SUST) kam im Zwischenbericht vom 22. September 2023 und im Schlussbericht vom 27. Mai 2025 (https://www.sust.admin.ch/inhalte/BS/2023081002_GBT_SB_D.pdf) zu einem klaren Schluss: Ursache war ein Radscheibenbruch als Folge einer thermischen Überbelastung der Lauffläche mit Entstehung senkrechter Ermüdungsrisse an einem Drehgestell mit Komposit-Bremssohlen. Die Rissentwicklung entstand langsam über eine längere Zeitspanne. Der Unfallwagen wurde am 26. Oktober 2017 durch eine zertifizierte Instandhaltungswerkstatt unterhalten und der Radsatz hatte seither 173’000 km zurückgelegt. Die SUST empfahl der European Union Agency for Railways (ERA),
die Entity in Charge of Maintenance (ECM) aufzufordern, die Massnahmen zur Risikobegrenzung im Betrieb, die durch die JNS Task Force vorgeschlagen wurden, auf alle Radsatztypen, die mit Verbundstoffbremssohlen gebremst werden, zu erweitern;
die Kriterien der Instandhaltungsvorgaben für Radsätze, die mit Verbundstoffbremssohlen gebremst werden, betreffend Intervall und Methodik anzupassen;
eine Studie über den Einfluss von Verbundstoffbremssohlen auf die thermischen Beanspruchungen der Räder in Auftrag zu geben.
Massnahmen definiert
Das Bundesamt für Verkehr reichte bereits am 22. September 2023 bei der ERA einen Antrag für ein JNS-Verfahren ein. Am 24. Oktober 2023 wurde die JNS Task Force ‘Accident Gotthard base tunnel – Broken Wheels’ ins Leben gerufen. Der Abschlussbericht wurde am 4. April 2025 veröffentlicht. Der am 11. Juli 2024 publizierte Vorentwurf beschreibt bereits detailliert die nötigen Massnahmen.
Die Ursachen sind seit Mitte 2024 erkannt und die Massnahmen definiert. Jedes verantwortliche Eisenbahnverkehrsunternehmen, jeder Wagenhalter und Unterhaltsbeauftragter mit einem funktionierenden Risikomanagement hätte von sich aus aktiv werden müssen!
Unklare Verantwortlichkeiten
Die Europäische Kommission hat es nach Öffnung der Bahnnetze, welche 1991 ausgelöst wurde, verpasst, die Sicherheitsaufsicht den neuen Verhältnissen anzupassen. Bestehende Organisationen wurden sukzessive durch neue ergänzt. An die Stelle der seit 1893 bestehende Zwischenstaatlichen Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF), welche unter anderem Vorschriften zur Interoperabilität, zur Beförderung gefährlicher Güter sowie Verfahren für die technische Zulassung von Rollmaterial erlässt, trat ab 2006 die European Union Agency for Railways (ERA), welche die technischen Vorschriften und Zulassungsbedingungen für die EU-Staaten definiert. Es gibt eine Konkurrenz zwischen der OTIF, der ERA und der Branchenorganisation (GCU Bureau), welche den Allgemeinen Vertrag über die Verwendung von Güterwagen (AVV) verantwortet. Es geht um die Deutungshoheit, wer das Sicherheitsniveau im Schienengüterverkehr festlegt. Mit der Richtlinie zur Bahnsicherheit aus dem Jahr 2016 (Richtlinie (EU) 2016/798) blieb die Verantwortung zwischen der ERA und den nationalen Sicherheitsbehörden (NSA) aufgeteilt und das Verhältnis zu Branchenregelungen ist nicht definiert.
Schwächen der Sicherheitsaufsicht im Nachgang des Unfalls im Gotthardbasistunnel
Die JNS Task Force ‘Accident Gotthard base tunnel – Broken Wheels’, welche bei der ERA angesiedelt und durch diese moderiert wird, hat den Schlussbericht an die GCU Joint Committee überwiesen mit der Empfehlung, den Allgemeinen Vertrag über die Verwendung von Güterwagen (AVV) anzupassen. Es ist nicht zielführend, die Umsetzungsverantwortung für Sicherheitsmassnahmen einer Branchenorganisation zu übertragen, wo die Mitgliedschaft freiwillig ist und damit nur ein Teil des Marktes abgedeckt wird. Die Anpassung des AVV unterliegt einem aufwändigen Konsultationsverfahren sowie einem komplexen Zustimmungsverfahren mit Sperrminoritäten für Eisenbahnverkehrsunternehmen, Entity of Charge of Maintenance (ECM) und Wagenhaltern. Damit ist der AVV nicht geeignet, Sicherheitsmassnahmen umzusetzen.
Die nationalen Sicherheitsbehörden haben den Schlussbericht der JNS Broken Wheels pflichtschuldig veröffentlicht, so das Eisenbahn-Bundesamt am 20. Dezember 2024 (sowie die OTIF im August 2024). Die Publikation hat jedoch reinen Empfehlungscharakter. Die staatlichen Aufsichtsbehörden in der EU sind ihrer Verantwortung für die Bahnsicherheit damit ungenügend nachgekommen.
Verantwortung liegt bei der nationalen Sicherheitsaufsichtsbehörde
In dieser organisierten Verantwortungslosigkeit hat das Bundesamt für Verkehr als Aufsichtsbehörde über den Schienenverkehr das einzig Richtige getan. Es hat im Sommer 2025 mit Vertretern der Branche kurz- und mittelfristige Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit im Güterverkehr evaluiert, welche auf den Empfehlungen der JNS Broken Wheels beruhen. Gestützt darauf hat das BAV am 11. September 2025 präzise und gezielte Vorgaben an die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) und die Unterhaltsbeauftragten (ECM) erlassen, im Bewusstsein, dass nicht alle Betroffenen damit einverstanden sind. Dazu zählen unter anderem:
·Für die Radsatztypen BA004, BA390, Db-004sa, RI025, R32, BA304, BA303, RI101 und BA005 sowie mit dem Typ BA004 vergleichbare Radsatztypen beträgt der minimale Radsatzdurchmesser 864 mm.
Je nach Typ von Bremssohlen und Durchmesser hat die wagentechnische Untersuchung nach 50 000 Kilometern oder nach 200 000 Kilometern zu erfolgen.
Für jeden Güterwagen muss künftig ein gültiger Nachweis zur letzten wagentechnischen Untersuchung vorliegen.
Die Fahrzeughalter verpflichten sich mit einer Selbstdeklaration, künftig nur noch moderne Radsatztypen zu verwenden.
Die Umsetzungsfrist wurde auf Ende 2025 knapp bemessen, zieht aber in Betracht, dass die Massnahmen schon längere Zeit bekannt sind. Zudem sind die Anweisungen spezifisch abgefasst, so dass jedes Unternehmen mit einem aktuellen Wagenverzeichnis den Handlungsbedarf eingrenzen kann. Das BAV ist auch bekannt dafür, auf begründetes Ersuchen Erleichterungen bei der Umsetzung zu gewähren, wenn der Wille zur Mitarbeit gegeben ist.
Skizze einer Reform der Haftung und der Sicherheitsaufsicht bei Bahnen
Der Unfall im Gotthardbasistunnels hat zu einem unschönen Streit zwischen den Wagenhaltern und dem BAV geführt. Die Wagenhalter verteidigen ihre Vorzugsbehandlung, was nicht zielführend ist. Die Lösung liegt darin, dass die Vorgaben für die Haftung bei Eisenbahnunfällen und in der Sicherheitsaufsicht auf die institutionellen Änderungen im Schienenverkehr der letzten 25 Jahren angepasst werden, um gemeinsam die Sicherheit im Schienenverkehr hoch zu halten:
Die Europäische Union trägt die Verantwortung für den einheitlichen europäischen Bahnmarkt (Single European Railway Area). Sie hat die Marktöffnung durchgesetzt. Es reicht nicht, dass sie sich für die technische Vereinheitlichung (Interoperabilität) einsetzt oder sicherheitsrelevante Arbeitsgruppen moderiert. Sie muss in der Sicherheitsaufsicht und bei der Haftung ein konsistentes System schaffen, welches die Voraussetzung für eine hohe Sicherheit bei der Bahn ist. Die Europäische Kommission muss die Verantwortung für die Richtlinien und die European Union Railway Agency (ERA) für die primäre Verantwortung bei der Sicherheitsaufsicht im europäischen Eisenbahnmarkt übernehmen. Sie definieren, was das erwartete Sicherheitsniveau ist und setzen dieses mit Anweisungen europaweit um.
Die nationalen Sicherheitsaufsichtsbehörden tragen die Verantwortung bei der Umsetzung über Zulassungs- oder Bewilligungsverfahren (präventive Phase) und Betriebskontrollen (wie Audits bei Unternehmen, Kontrollen von Güterzügen). Solange eine durchschlagskräftige europäische Sicherheitsaufsicht fehlt, legen die nationalen Behörden das Sicherheitsniveau fest und intervenieren, wenn die Selbstverantwortung der Branche ungenügend greift. In diesem Fall werden Massnahmen verfügt. Die Aufsichtsbehörden in den EU-Mitgliedsländern sollten die vom BAV angeordneten Massnahmen für ihr Hoheitsgebiet übernehmen und durchsetzen.
Branchenregelungen ergänzen die staatliche Regulierung und leisten den Unternehmen praktische Hilfe in der Umsetzung. Branchenregelungen müssen sich im gesetzlichen Rahmen bewegen (der entsprechend eindeutig und widerspruchsfrei sein muss). Branchenregelungen können jederzeit durch Verfügungen der nationalen Sicherheitsaufsichtsbehörden übersteuert werden. Die Branche legt damit nicht das Sicherheitsniveau fest.